Alexander von Humboldt und die 8. Berlin Biennale im Spiegel der Presse
Presse und Kunstkritik heben in Reaktionen auf die achte Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst (29.5. bis 3.8.2014) häufig den Bezug zu Alexander von Humboldt hervor. Was verbindet den Forschungsreisenden und Autor des „Kosmos“ mit der Kunst des 21. Jahrhunderts?
Das Auswahlkomitee für die Kuratorenschaft, dem u.a. Susanne Gaensheimer (Direktorin des MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a. M.), Matthias Mühling (Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München) und Sergio Edelsztein (Direktor des Centre for Contemporary Art, Tel Aviv) angehörten, ernannte den in Mexiko-Stadt und Berlin lebenden Juan A. Gaitán zum Kurator der diesjährigen Biennale. Sein Konzept für die Ausstellungen, die im KW Institute of Contemporary Art in Berlin-Mitte und an dezentralen Orten wie dem Haus am Waldsee und den Museen in Dahlem gezeigt werden, habe durch Kosmopolitismus in Verbindung mit den Humboldt-Brüdern überzeugt, so Nicola Kuhn im Tagesspiegel vom 12.6.2014:
Eine solch abgehängte Adresse zur angesagten Location des Kunstvolks zu erheben, darin eine Bühne zu erkennen, dafür braucht es einen frischen, einen anderen Blick – den von außen eben, wie ihn der kanadisch-kolumbianische Kurator Juan Gaitán mitbringt. Die Findungskommission war von ihm sehr schnell überzeugt, zumal als auch noch Wilhelm und Alexander von Humboldt in seinem Ausstellungskonzept vorkam. Ein Weltbürger der Gegenwart kombiniert mit Preußens klügstem Brüderpaar, das Bildung und Forschung par excellence repräsentiert, das musste etwas werden für eine Berlin-Biennale, die alle zwei Jahre mit Hilfe der zeitgenössischen Kunst die Stadt und ihre Befindlichkeiten sondiert.
Die Aktualität der Humboldt-Brüder betont auch eine Pressemitteilung des Instituts für Auslandsbeziehungen:
Im Zentrum der achten Berlin Biennale, die vom 29. Mai bis zum 3. August läuft, steht das Werk der Geschwister Wilhelm und Alexander von Humboldt, die durch ihre Forschung auf den Gebieten der Geistes- und Naturwissenschaft die Kulturlandschaft Berlins und ganz Deutschlands bis in unsere Zeit beeinflusst haben. Auch die Bedeutung der Entdeckungsreisen Alexander von Humboldts in Südamerika möchte Gaitán thematisieren.
Welche Parallelen es zwischen der Ausstellung im KW Institute for Contemporary Art und den humboldtschen Forschungstätigkeiten gibt, erläutert ein Artikel vom 29.5.2014 in der Berliner Morgenpost:
Über drei Stockwerke hinweg geht es um Archivieren, Kartographieren und Systematisierung von Wissen. […] Die filigranen Papiere mit Landschaften und Blättern von Irene Kopelman sind zeichnerische Exerzitien in der großen, weißen Halle. Sie haben Studiencharakter: Gaitán wandelt auf den Spuren der Humboldt-Brüder, deren universeller Forscherdrang kaum ein Thema ausgelassen hat.
Die ursprüngliche Fokussierung des Kurators auf das Brüderpaar trat im Lauf der Ausstellungsvorbereitungen zugunsten subtiler Verweise zurück. Im Interview mit Stefanie Dörre von TIP Berlin (4.6.2014) erklärt der Biennale-Leiter Gaitán:
Mein Konzept hatte den Titel „Wilhelm und Alexander“. Die Brüder waren sehr unterschiedlich. Zusammen schienen sie mir das ideale moderne Subjekt zu repräsentieren. Wilhelm verkörpert die Festigkeit: ein Familienmensch, der fast sein ganzes Leben an einem Ort verbrachte, und ein Reformer des Preußischen Bildungssystems. Alexander repräsentiert Mobilität: ein Reisender, Botaniker und Forscher. Aber die 8. Berlin Biennale geht nicht über die Humboldts, das war ein frühes Stadium.
Im Kuratorischen Statement (Pressemappe vom 24.1.2014) stellt der Ausstellungsmacher nun die Frage,
wie das Berlin des 18. und 19. Jahrhunderts innerhalb der aktuellen Kulturlandschaft [und…] entlang historischer Ausformulierungen von Bewegung und Beständigkeit – zwei Hauptkategorien moderner Subjektivität [verhandelt wird].
An drei verschiedenen Orten in Berlin versammeln Gaitán und das Artistic Team
eine Reihe lokaler und internationaler künstlerischer Positionen, die sich mit den Überschneidungen von größeren historischen Narrativen und dem individuellen Leben beschäftigen, um so ein Gegengewicht zu empirischen und autoritär auftretenden Geschichtsansätzen und Geschichtswerdungsprozessen zu bilden.
Die Ausstellungen sind eine Reflexion über das Ausstellungsmachen selbst. Sie bieten
eine Gelegenheit, sich mit der Art und Geschichte des Zurschaustellens und mit der Funktion von Museen – oder Kultureinrichtungen allgemein – auseinanderzusetzen.
Einen deutlichen Bezug zum Forschungsreisenden Alexander von Humboldt stellt die Ausstellung „Double Lives“ im Ethnologischen Museum in Dahlem her. Juan Gaitán beschreibt das Ausstellungsprojekt der aus Indien stammenden Kuratorin Natasha Ginwala in der Pressemappe vom 27.5.2014:
„Doppelleben“ […] hat die Form eines Essays mit einem „Epilog“, der das im Zuge ihrer Forschung gesammelte und in der Ausstellung gezeigte Material erläutert. Sie beginnt mit einem frühen Motiv, das uns fasziniert hat, nämlich mit einigen Figuren der späten Aufklärung wie dem Berliner Alexander von Humboldt, die es sich zur Aufgabe machten, die Welt zu bereisen, Information über die Vielfalt ihrer natürlichen Landschaften, ihrer Flora und Fauna, ihrer Sprachen und Kulturen einzusammeln und diese Kenntnisse zurück nach Europa zu bringen. Ginwalas Recherchen widmen sich einer spezifischen Kontinuität zwischen den dialektischen Gestalten des Reisenden und des Autors. Indem sie einige Bilder aus dieser Zeit analysiert, schlägt sie zugleich vor, die Spuren solcher realer oder imaginärer Reisen „stereoskopisch“ zu deuten.
Alexander von Humboldts berühmter, im Mexiko-Tagebuch formulierter Satz „Alles ist Wechselwirkung.“ steht über der Beschreibung von „Double Lives“ auf der Homepage der Berlin Biennale. Unterschiedliche Bildproduzenten des 19. Jahrhunderts wie der Mediziner Santiago Ramón y Cajal, der Zoologe Carl Wilhelm Hahn, der Geologe und Botaniker Franz Wilhelm Junghuhn, der Afrikaforscher Emin Pasha, der Fotograf und Maharaja Sawai Ram Singh II und die Pädagogin Emma Hart Willard sind für die Ausstellungsmacherin „symbolische AgentInnen, die das anhaltende Spannungsverhältnis zwischen Empirismus und Rationalismus aufzeigen.“ Den roten Faden bildet die Technik der Stereoskopie, ein Verfahren, das eine tiefenräumliche Wahrnehmung flacher Bilder ermöglicht und im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt werden kann.
Die Vorstände der Kulturstiftung des Bundes, Hortensia Völckers (Künstlerische Direktorin) und Alexander Farenholtz (Verwaltungsdirektor), zeigen sich im Grußwort des Katalogs erfreut über den kuratorischen Bezug zu Alexander von Humboldt:
Die Kulturstiftung des Bundes ist sehr froh, dass mit dem in Kolumbien gebürtigen Juan Gaitan ein Kurator für diese bb8 verantwortlich zeichnet, für den die Person Alexander von Humboldt eine historische Geläufigkeit und der außereuropäische Blick auf Berlin eine Selbstverständlichkeit darstellt. Folgerichtig reichen die Interessen, die zahlreiche der von Juan Gaitan eingeladenen Künstlerinnen und Künstler verfolgen, über gängige europäische Narrative des Kalten Krieges oder den Fall der Mauer hinaus zu Fragen, die das Verhältnis von Eigenem und Fremden in einem weiteren Sinn betreffen: Wie definieren bestimmte Akteure kulturelles Eigentum? Welche Geschichten des Missverstehens prägen unsere Wahrnehmung fremder Kulturen, und nicht zuletzt: Wie können Museen – und neben ihnen auch Kunstbiennalen – zu Orten einer Begegnung werden, in denen Neugierde, Sinnlichkeit, Experimentierfreude und politische Reflektion gleichermaßen Raum finden?
Positives Feedback erhält das Ausstellungskonzept auch in der Frankfurter Rundschau (2.6.2014), deren Redakteure in einem Bericht über die Biennale „Liebesgrüße an Humboldt“ schicken:
Die Schau von 53 Künstlern aus aller Welt an drei Orten folgt nicht dem gängigen Berlin-Mythos. Sie wirkt subtil, präzise, politisch – ohne Spektakel, dafür mit starkem Bezug auf Alexander von Humboldt.
Ingeborg Ruthe beschreibt den Kontrast der zeitgenössischen Installationen zu humboldtschen Objekten:
Carsten Höller stört im dunklen Raum voller präkolumbianischer Goldschätze die geheimnisvolle Aura durch ein hart flackerndes, schmerzendes Licht. Und Alberto Baraya aus Bogota verwandelte die Wandvitrinen dahinter zu einem kuriosen Herbarium. Als konterkariere er Alexander von Humboldts legendäre Botanisiertrommel mit einem Aufgebot an kitschigen Kunstblumen von heute.
Auf die Künstler im Haus am Waldsee geht Irmgard Berner ein. Bei ihnen lassen sich weitere Humboldt-Bezüge wie beispielsweise der im „Kosmos“ von Alexander von Humboldt besprochene Roman „Paul et Virginie“ oder Moskitolarven finden:
Hier geht es um die Landschaft sowohl in ihrer romantischen wie auch ethnografischen Vorstellung, um „lyrische“ Zugänge“ und nicht nur um wissenschaftliche. So berührt die Argentinierin Carla Zaccagnini mit der Komposition „Le Quintour de Nègres, encore“ beim Eintritt in den großen Saal. Die Notationen einer Partitur verschmelzen mit dem Klang, den sie aufzeichnen. Die Musik stammt aus dem Ballett und der Liebesgeschichte „Paul et Virginie“. Der Klang zieht hinaus auf den Balkon und in den Garten, man lauscht den Tanzschritten in der Musik, die sich mit dem knirschenden Kies der Besucherschritte vermischen. Moskitolarven lässt der Franzose Mathieu Kleyebe Abonnenc in Wasserflaschen heranwachsen, man wird ihr Schlüpfen in den nächsten Wochen beobachten können.
Zur Frage, warum das 19. Jahrhundert so spannend sei und zur Bedeutung des Namens Humboldt in Lateinamerika äußert sich Gaitán in einem Interview mit Gesine Borcherdt vom Art Magazin (28.5.2014):
Interessant ist auch, dass es in Lateinamerika ein großes Bewusstsein für Humboldt gibt – für Alexander, nicht für seinen Bruder Wilhelm, den die Deutschen mit dem Namen verbinden. Alexander zeichnete einen Querschnitt durch die Erdkugel; das war ein wichtiger Moment für Lateinamerika, viele Institutionen sind nach ihm benannt. Die meisten wissenschaftlich orientierten Repräsentationen der Welt wurden von Humboldt gemacht, und das interessiert viele Künstler.
Rüdiger Schaper schreibt im Tagesspiegel vom 28.05.2014 ausführlich über „Alexander von Humboldt und die 8. Berlin-Biennale. Die Anschauung der Welt“ und geht dabei auf die im „Kosmos“ enthaltene Passage über die „Zunahme der Weltanschauung unter den Ptolemäern“ ein:
Humboldt spricht von „systematischer Universal-Geografie“, und so versteht er „Weltanschauung“. Nicht ideologisch begrenzt, sondern getrieben von Neugier und der Lust auf das Offene. Welt und Anschauung. Ein wunderbares Wort, wenn man es zu seinem Ursprung zurückführt, zum Augenmenschen, der schaut. Die „Zunahme“, die Alexander von Humboldt um das Jahr 300 v. Chr. beobachtet, verdankt sich wissenschaftlichem Fortschritt und einer rasant sich verändernden Welt. Solche Phasen gab es häufig in der Geschichte, und das ist auch grob unsere Situation: wenn man das Gefühl hat, dass der Planet sich schneller dreht, gleichzeitig abflacht und unüberschaubarer wird. Die zeitgenössische Kunst, zumal auf Biennalen, hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend wissenschaftlich orientiert und inspiriert. Humboldts Terminologie erweist sich als zukunftsstark, wenn er von „Ideenverknüpfung“ und „raumdurchdringenden“ Mitteln und Methoden spricht.
Weitere Pressestimmen:
- Goethe Institut, „Mehr als Mitte“ – die Berlin-Biennale aus Sicht ihres Kurators (Interview von Eva-Christina Meier mit Juan Gaitán, Mai 2014)
- Deutsche Welle, Berlin Biennale, Silke Bartlick, 28.05.2014
- Frankfurter Allgemeine Zeitung, Diese schönen Dinge, die keine Kunst sind, Niklas Maak, 30.5.2014